Vom Wildpinkeln und seiner rechtlichen Bewertung

Vom Wildpinkeln und seiner rechtlichen Bewertung

Vom Wildpinkeln und seiner rechtlichen Bewertung

Das durchaus menschliche Bedürfnis des Wasserlassens und der gegenwärtige Aufenthaltsort passen nicht immer lösungsorientiert zusammen. Eine Toilette fehlt oft genau in dem Moment, in dem die Pein des Drangs so akut wird, dass ein Aushalten kaum mehr möglich ist. Unweigerlich kommt dann die Entscheidung zum Wildpinkeln. Das ist im Allgemeinen verpönt, weil sofort am Schamgefühl des Verrichtenden gezweifelt wird. Deshalb unterstellt man einer Person beim Wildpinkeln sofort die Erregung eines öffentlichen Ärgernisses. Dieser Umstand wäre eine Ordnungswidrigkeit, die natürlich auch eine Strafe nach sich ziehen kann. 

Dabei stellt sich die spannende Frage, ob derlei Reaktion immer gerechtfertigt ist. Was sollen Bauarbeiter tun, wenn sie ganztags eine Straße im Nirgendwo bauen und mobile Toiletten nicht zur Verfügung stehen? Vor ähnlichen Situationen sehen sich auch Waldarbeiter, Landwirte, Tierwirte auf der Weide, aber auch Spaziergänger im Wald, Jäger, Pilzsammler und viele mehr. Sie alle können unweigerlich in die Situation des Drangs gelangen, dann ist das Wildpinkeln oft die einzige Lösung. Müssen sie deshalb alle auch konsequent und unmittelbar bestraft werden? 

Was schon aus tatsächlichem Blickwinkel kaum möglich wäre, das würde wohl auch an der rechtlichen Überprüfung derlei Verrichtung scheitern. Das zeigt beispielhaft ein Fall, den das Amtsgericht Lübeck zum Wildpinkeln verhandeln und entscheiden musste (AG Lübeck 83a OWi 739 JS 4140/23 jug.).

Eine junger Mann hatte in der Nacht, bei einer Feier am Strand der Ostsee, mit dem Rücken zum Strand stehend in Richtung Wasser uriniert. Weitere Personen befanden sich in großem Abstand zu ihm, so dass eine unmittelbare Belästigung ausgeschlossen werden konnte. Mitarbeiter des Ordnungsamtes allerdings bemerkten den Vorgang, ließen ihn bis zur Erleichterung geschehen und verhängten dann gegen ihn, wegen Belästigung der Allgemeinheit nach § 118 OWiG, mittels Bußgeldbescheid eine Geldbuße von 60,- Euro.

„Die tatsächlichen Feststellungen rechtfertigten für das Gericht die Annahme einer Belästigung der Allgemeinheit nach § 118 OWiG aber gerade nicht. Danach handelt ordnungswidrig, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Bereits die Voraussetzungen einer grob ungehörigen Handlung können nicht festgestellt werden. Dies setzt eine Handlung voraus, die sich nicht in die für ein gedeihliches Zusammenleben der jeweiligen Rechtsordnung erforderliche Ordnung einfügt, im deutlichen Widerspruch zur Gemeinschaftsordnung steht und derart gegen anerkannte Regeln von Sitte, Anstand und Ordnung verstößt, dass dadurch eine unmittelbare psychische oder physische Belästigung der Allgemeinheit in Betracht kommt. Dabei sind die Umstände des Einzelfalls zu beachten und der stete gesellschaftliche Wandel zu Fragen des gedeihlichen Miteinanders“.

Das in Rede stehende Wildpinkeln war nicht geeignet, das Schamgefühl zu verletzen. Auch in fest installierten Sanitäreinrichtungen sind Männer nicht generell allein im Moment des Wasserlassens. Der Vorgang ist danach auch in Gesellschaft tendenziell eher nicht schambehaftet. Soweit Fragen der Scham beim Wasserlassen außerhalb von Bedürfnisanstalten insbesondere über Geschlechtergrenzen hinweg berührt sein können, entspricht es der Üblichkeit, sich soweit als es die Umgebung zulässt, den Blicken anderer zu entziehen, sich zumindest aber abzuwenden und diskret zu verhalten. Auch an der Ostsee bestand für den Betroffenen keine andere Möglichkeit zur Verrichtung außer der Abkehr vom Strand. Das kann ihm nicht zum Nachteil gereichen. 

Auch ist eine belästigende Verschmutzung oder Geruchsbeeinträchtigung nicht eingetreten, was bei der Wassermenge der Ostsee nahezu ausgeschlossen werden kann.

„Demnach ist das Verhalten des Betroffenen eine nach der allgemeinen Handlungsfreiheit des Artikel 2 Absatz 1 GG geschützte und letztendlich wohl auch naturrechtlich verankerte menschliche Willensbetätigung. Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee.“

Soweit die richterlich abschließende Begründung des Urteils, welches mit einem Freispruch für den Betroffenen endete.

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Bildquelle: Bild von Roland Steinmann auf Pixabay